Künstliche Intelligenz hat eine neue Reifephase erreicht und sich als Basisinnovation zu einem bedeutenden Treiber der Digitalisierung in allen Arbeits- und Lebensbereichen entwickelt. Ihr wird nicht weniger zugetraut, als zu einem größeren Wohlbefinden und Wohlstand der Menschheit beizutragen. In jedem Fall verfügt künstliche Intelligenz über ein erhebliches Potenzial, die öffentliche Beschaffung zu professionalisieren, zu vereinfachen und zu beschleunigen. Ein Blick auf mögliche Anwendungsfelder.
Autor: Frederic Delcuvé, Fachanwalt für Vergaberecht
Sprache ist ein komplex aufgebautes logisches System, das Schriftzeichen in einer geordneten Struktur miteinander verbindet und hierdurch eine Information generiert. Die Fähigkeit, durch Sprache zu kommunizieren, ist – jedenfalls ab einem gewissen
Komplexitätsgrad – dem Menschen eigen. In jüngerer Zeit haben Chatbots für Aufsehen gesorgt, die künstliche Intelligenz (KI) in Form von Sprachmodellen verwenden und eine menschliche Kommunikation nachbilden. Solche Sprachmodelle sind in der Lage, Schriftsprache zu verarbeiten und darauf zu antworten.
Das Besondere: Anders als frühere Chatbots wählen diese Chatbots nicht auf der Grundlage von Schlüsselwörtern einen vordefinierten Antworttext aus. Die KI verleiht ihnen die Fähigkeit, autonom einen Antworttext auf der Grundlage der Eingabedaten und des ihnen zur Verfügung gestellten Datensatzes zu generieren sowie Texte zu analysieren und zusammenzufassen. Diese Technologie ist grundsätzlich geeignet, auch Vergabe- und Angebotsunterlagen innerhalb kürzester Zeit zu analysieren und relevante Informationen zu extrahieren. Dies spart nicht nur Zeit, sondern reduziert auch menschliche Fehlleistungen und subjektive Bewertungen.
Regulierung von KI
Ein Regelungsrahmen existiert für den Einsatz von KI (noch) nicht. Ein EU-weiter Ansatz zur gemeinsamen Regulierung von KI wurde von der Europäischen Kommission im Jahr 2018 mit der Strategie „Künstliche Intelligenz für Europa“ entworfen. Im Jahr 2021 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Verordnung zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für künstliche Intelligenz (sogenannter AI Act) unterbreitet.
Dieser Vorschlag zielt darauf ab, einen Rechtsrahmen für eine vertrauenswürdige KI zu schaffen und Unternehmen Anreize zu geben, diese zu entwickeln. Derzeit befindet sich der Vorschlag im laufenden Gesetzgebungsverfahren. In der Bundesrepublik Deutschland sind bislang keine Regulierungsaktivitäten erkennbar.
Der Vorschlag der Europäischen Kommission sieht das Verbot für bestimmte Praktiken im Umgang mit KI und Einschränkungen für den Einsatz von Hochrisiko-KI-Systemen vor. Der Einsatz von KI im Rahmen des Vergabeverfahrens dürfte hiervon nicht betroffen sein.
Es ist auch zukünftig nicht zu erwarten, dass die Verwendung von KI in Vergabeverfahren eingeschränkt wird. Im Gegenteil dürfte der Einsatz dieser Technologie eher gefördert werden, um die Vergabeverfahren schneller und effizienter durchführen zu können.
Digitalisierung von Vergabeentscheidungen?
In der Verantwortung der Durchführung des Vergabeverfahrens steht der Auftraggeber. Er handelt durch einen menschlichen Vertreter und kann daher nicht durch eine Sache und daher auch nicht durch ein KI-System agieren. Prüfen, entscheiden und festlegen muss immer noch der menschliche Sachbearbeiter des Vergabevorgangs.
Es ist nicht auszuschließen, dass die technische Weiterentwicklung von KI es zukünftig ermöglichen wird, einen vom Menschen definierten Beschaffungsbedarf autonom durch die Durchführung eines Vergabeverfahrens zu befriedigen. Der rechtliche Rahmen lässt dies jedenfalls (noch) nicht zu. Dies schließt es nicht aus, bestimmte Aufgaben im Vergabeverfahren zu delegieren.
Bereits in der derzeitigen Beschaffungspraxis geschieht dies – indem sogenannte Beschaffungsdienstleister in die Vorbereitung oder Durchführung des Vergabeverfahrens einbezogen werden. Erforderlich ist bei einer solchen Delegation, dass der Auftraggeber der „Herr des Verfahrens“ bleibt, also die Entscheidungen im Vergabeverfahren eigenverantwortlich trifft. Delegierbar sind damit lediglich reine verwaltungstechnische Vorgänge, aber auch die Erstellung von Entscheidungsvorschlägen.
Solche Vorschläge dürfen Auftraggeber jedoch nicht schlicht abnicken, sondern müssen sie ausführlich würdigen, nachvollziehen und die Entscheidung schließlich nach eigener Überzeugung treffen. Dieser Rahmen wird auch bei der Anwendung der KI einzuhalten sein. Die Arbeitsergebnisse einer KI müssen vom Auftraggeber gewürdigt und nachvollzogen werden, um die anschließende Entscheidung auf Grundlage der Arbeitsergebnisse der KI auch eine Entscheidung des Auftraggebers sein zu lassen.
In der KI-Forschung wird auf ein psychologisches Phänomen hingewiesen, für das auch der Bearbeiter eines Vergabeverfahrens anfällig sein könnte: die sogenannte Automatisierungsbias. Dies beschreibt die mögliche Neigung zu einem automatischen oder übermäßigen Vertrauen in das von einem KI-System hervorgebrachte Ergebnis. Der Output wird nicht kritisch hinterfragt, sondern der Bearbeiter verlässt sich übermäßig auf die KI. Dies kann sich nach der KI-Forschung sogar verstärken, wenn der Bearbeiter unter Zeitdruck steht. Dem Vier-Augen-Prinzip könnte daher bei der Anwendung von KI eine besondere Bedeutung zukommen.
Vorbereitung des Vergabeverfahrens
Die Vorbereitung des Vergabeverfahrens ist zumeist zeitlich wie kapazitativ sehr anspruchsvoll für den Auftraggeber. Die KI könnte diesen Prozess zukünftig erheblich verkürzen. Eine umfassende Markterkundung kann für eine effiziente Gestaltung des Vergabeverfahrens wertvoll und für die Begründung einer Direktvergabe an ein bestimmtes Unternehmen sogar rechtlich geboten sein.
KI kann dazu eingesetzt werden, einen Überblick der am Markt verfügbaren Leistungen und der entsprechenden Anbieter zu erhalten. Bereits derzeit werden Softwarelösungen für bestimmte Standardprodukte angeboten, die Herstellerlisten regelmäßig abfragen und anhand von bestimmten Eigenschaften systematisch vergleichen. KI ist in der Lage, diese Funktionalität zu erweitern und insbesondere konkrete Bedarfsabfragen zu beantworten. Dies hat das Potenzial, den Vorgang der Markterkundung erheblich zu beschleunigen.
Voraussetzung für eine belastbare Markterkundung ist jedoch, dass der KI alle relevanten Produktportfolios zugänglich sind und eine aktuelle Datenlage besteht. Dies dürfte bei derzeit verfügbaren KI-Softwares nicht uneingeschränkt gegeben sein. Vor diesem Hintergrund wird KI jedenfalls vorerst nur unterstützend zur Markterkundung herangezogen werden können.
Herzstück der Vergabeunterlagen ist die Leistungsbeschreibung. In dieses Dokument sind alle Anforderungen aufzunehmen, die von den Bietern bei der Angebotserstellung zu berücksichtigen sind und die der spätere Auftragnehmer bei der Auftragsausführung zu beachten hat. Die nachgefragte Leistung muss darin eindeutig und erschöpfend beschrieben werden. Eine KI kann diesen Prozess beschleunigen und auf Grundlage bestehender Leistungsbeschreibungen und der Eingabedaten eine individuelle Leistungsbeschreibung erstellen.
Bestehende KI-Angebote können bereits Textbausteine für Leistungsbeschreibungen in dieser Weise generieren. Die Anforderungen an eine eindeutige und erschöpfende Leistungsbeschreibung werden indes nur zu realisieren sein, wenn die Eingabedaten detailliert sind und von der KI entsprechend verarbeitet werden. Vor diesem Hintergrund dürfte KI bei der Beschreibung von Standardleistungen eher, bei komplexen oder innovativen Leistungen hingegen weniger effizient einzusetzen sein.
Die weiteren Unterlagen, z.B. Bewerbungsbedingungen und Vertragsunterlagen, sind bereits bislang in der Vergabepraxis häufig durch entsprechende Muster und Vorlagen vorentwickelt und werden für das jeweilige Vergabeverfahren lediglich angepasst. Es ist zu erwarten, dass die KI diesen Prozess erheblich vereinfachen und beschleunigen kann.
Prüfung und Wertung von Angeboten
Auftraggeber haben die eingereichten Angebote zu prüfen und zu werten. Die Fähigkeit von KI, große Datenmengen auszuwerten und zusammenzufassen, kann hier von großem Nutzen sein. Die formale Prüfung der Angebote im Vergabeverfahren umfasst insbesondere die Prüfung auf Vollständigkeit, Einhaltung von Frist und Form und die Entsprechung mit den Vergabeunterlagen. Derlei Prüfungen können und werden teilweise bereits durch Automatismen in Vergabemanagementsystemen erledigt.
Der Einsatz von KI wird es künftig auch ermöglichen, inhaltliche Abweichungen automatisiert zu identifizieren und auszuwerten. Auftraggeber dürfen einen Auftrag nur an solche Unternehmen vergeben, welche die Eignungsanforderungen (z.B. Referenzen, Umsätze) erfüllen. Die von den Bietern zum Beleg der Eignung eingereichten Dokumente müssen Auftraggeber hierauf überprüfen. Sofern eine rein schematische Abfrage etwa durch binäre Fragen zu den Referenzaufträgen erfolgt oder das Erreichen von Mindestumsätzen festzustellen ist, kann dieser Prozess bereits nach dem derzeitigen Technologiestand automatisiert werden.
Die Anwendung von KI wird insbesondere bedeutsam, wenn textliche Ausführungen zu Referenzen erwartet werden, die nicht schematisch, sondern inhaltlich im Hinblick auf die gestellten Eignungsanforderungen bewertet werden müssen. Dies dürfte mit einer KI-Software noch nicht, möglicherweise aber zukünftig verlässlich zu realisieren sein.
Exkurs: Eignung
Öffentliche Aufträge dürfen nur an geeignete, also fachkundige und leistungsfähige Unternehmen vergeben werden. Ein Unternehmen ist geeignet, wenn es die vom Auftraggeber zur ordnungsgemäßen Ausführung des öffentlichen Auftrags festgelegten Eignungskriterien erfüllt. Die Eignungskriterien müssen mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung und zu diesem in einem angemessenen Verhältnis stehen.
Stets zulässig ist es beispielsweise, die Erfahrung des Unternehmens als Eignungskriterium festzulegen. Auftraggeber dürfen von den Unternehmen, die sich um einen öffentlichen Auftrag bewerben, verlangen, diese Erfahrung durch geeignete Referenzen aus früher ausgeführten Aufträgen nachzuweisen.
Eine erhebliche Unterstützungsleistung ist KI auch bei der Wertung der Angebote zuzutrauen. Bei Vergaben, die ausschließlich nach dem Preis oder metrischen Werten (zum Beispiel Angaben zur Reichweite von E-Fahrzeugen) vergeben werden, liefern aktuelle Vergabemanagementsysteme aufgrund der hinterlegten Automatismen bereits hinreichende Ergebnisse.
Ein relevanter Anwendungsbereich von KI besteht jedoch, wenn die Angebotswertung insbesondere auf Grundlage konzeptioneller Ausführungen erfolgt. Eine solche Wertung kann ausgesprochen komplex sein und ein sehr hohes Maß an fachlichem und sprachlichem Verständnis verlangen, über das die derzeit genutzte KI-Technologie nicht verfügt. Zukünftige Reifephasen von KI werden es aber zulassen, dass KI eine Analyse der eingereichten Angebote unter bestimmten Wertungsaspekten vornimmt. Gerade dieser mitunter sehr zeitintensive Prozess könnte daher beschleunigt werden.
Exkurs: Wertung der Angebote
Die Wertung der Angebote dient der Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebots. Die Angebote werden auf Grundlage von zuvor bekanntgegebenen Kriterien (sogenannten Zuschlagskriterien) bewertet. Als Zuschlagskriterien kommen neben dem Preis auch qualitative, umweltbezogene und soziale Kriterien in Betracht. Diese Kriterien müssen mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung stehen. Dasjenige Angebot, das die beste Bewertung auf Grundlage der bekanntgegeben Zuschlagskriterien erhält, ist das wirtschaftlichste Angebot.
Beantwortung von Bieterfragen im Chat?
Aus Bietersicht vielleicht eine attraktive Vorstellung: Bieterfragen werden in Echtzeit und rund um die Uhr durch einen Chatbot beantwortet. Was in technischer Hinsicht möglich sein wird, ist in rechtlicher Hinsicht noch nicht darstellbar. Die von der KI generierten Antworten werden auf absehbare Zukunft einer menschlichen Kontrolle unterzogen werden müssen.
Auch müssen die Antworten allen interessierten Unternehmen zeitgleich zur Verfügung gestellt werden, was eine unmittelbare Beantwortung nur gegenüber dem fragenden Unternehmen ausschließt. Die Erstellung von Antwortentwürfen ist hingegen bereits derzeit ein geeignetes Anwendungsfeld für den Einsatz von KI.
Ausblick - Künftige Anwendungsfelder von KI im Vergabeumfeld
Die Unterstützungsleistung von KI wird vor allem in entscheidungsvorbereitenden Auswertungstätigkeiten, einfach gelagerten oder repetitiven Vorgängen ohne komplexe Güterabwägung sowie in der Kohärenzprüfung von Unterlagen liegen. KI verfügt damit über ein erhebliches Potenzial, den menschlichen Aufgabenbereich von Routinetätigkeiten zu entlasten und Beschaffungsvorgänge zu professionalisieren und zu beschleunigen. Dies wird den Blick auf anspruchsvolle Aufgaben lenken, die bislang mangels zeitlicher oder personeller Kapazitäten nicht im Fokus standen, und die Qualität der öffentlichen Beschaffung steigern können.
Dies ist ein Beitrag aus dem KOINNOmagazin 02/23 mit dem Schwerpunktthema Künstliche Intelligen in Stadt und Land. Die restlichen Beiträge zum Thema finden Sie hier.