Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hat im Jahr 2019 die Reallabore-Strategie zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für mehr Innovationen in Deutschland geschaffen. Die Reallabore-Strategie verfolgt mehr rechtliche Spielräume, Know-how-Transfer und Vernetzung sowie die Erprobung von Reallaboren in der Praxis. Dies betrifft nicht nur technologische, sondern auch soziale Innovationen. Im November 2024 hat die Bundesregierung den Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Erprobung von Innovationen in Reallaboren und zur Förderung des Regulatorischen Lernens (ReallaboreG) vorgelegt.

 

Was sind Reallabore und was heißt Regulatorisches Lernen?

Selbstreguliertes Lernen (SRL) beschreibt die Fähigkeit, eigenständig Ziele für den Lernprozess zu formulieren, passende Strategien zur Zielerreichung auszuwählen und anzuwenden, den Fortschritt zu überwachen, die Ergebnisse zu bewerten und die gewonnenen Erkenntnisse für zukünftiges Lernen zu nutzen. Genau bei diesem Prinzip setzt das Konzept der Reallabore an.

Reallabore bieten Möglichkeiten zum Testen und Erproben von neuen Ideen und technischen Neuerungen. Um Raum für mehr Innovationen in Wirtschaft, Öffentlicher Beschaffung und Gesellschaft zu schaffen, braucht es auch Regulierung, jedoch nicht als Einschränkung im engen Sinne verstanden, sondern vielmehr für größere Freiheiten im Ausprobieren. Denn erst, wenn die Grenzen bekannt und gesteckt sind, kann der Freiraum voll ausgenutzt werden.

In Reallaboren wird daher ausgetestet, wieviel Regulierung es braucht, um Innovationen zu realisieren. Dazu werden innovative Lösungen, die noch nicht am Markt zugelassen sind, in einem sicheren Umfeld zügig in die Anwendung gebracht. Das Testfeld in Reallaboren gibt den Regierungsbehörden auf Bundes- und Länderebene wertvolle Hinweise für gesetzliche Weichenstellungen, so dass am Ende alle Beteiligten davon profitieren.

Erfolgreiche Beispiele wie selbstfahrende (autonome) Busse, Schiffe oder Drohnen, digitale Behördenservices, neue Wege in der erneuerbaren Energiegewinnung, transformative (tiefgreifend verändernde) Bildung oder umweltfreundliche (bzw. smarte) Stadtlösungen zeigen, wieviel Reallabore bewirken können.

 

Arbeitsweise in Reallaboren

Reallabore sind keine Verfahren im rechtlichen Sinne, sondern vielmehr ein interdisziplinäres Format, das sich am besten als partizipativer Forschungsansatz und Innovationsmethode beschreiben lässt. Die Beteiligten sammeln Daten, tauschen Erfahrungen aus und passen die Methoden und Konzepte in einem iterativen Prozess an. So entsteht eine dynamische Form der Forschung, die auf Rückmeldungen aus der Praxis reagiert.

Reallabore sind wichtig für den digitalen und nachhaltigen Wandel. Sie helfen, neue Produkt- und Lösungsideen, die noch nicht offiziell für den Gebrauch genehmigt sind, schnell und sicher auszuprobieren. Dabei zeigen sie auch, wie solche Innovationen in der Zukunft gesetzlich geregelt werden sollten, damit alle davon profitieren. Im Testfeld arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschafter, Unternehmen, Behörden und Bürgerinnen und Bürger zusammen, um Lösungen für aktuelle Herausforderungen zu finden. Ziel ist es, nicht nur theoretisch zu forschen, sondern direkt zu sehen, wie gut etwas in der Praxis funktioniert.

 

Vorteile von Reallaboren

Reallabore bringen mehrere Vorteile. Sie ermöglichen es, innovative Lösungen schneller in die Anwendung zu bringen, weil die Praxis eng mit der Forschung verknüpft ist. Außerdem fördern sie den Dialog zwischen verschiedenen Gruppen von Fachleuten bis zu den Bürgerinnen und Bürgern. Das hilft, Akzeptanz für neue Konzepte zu schaffen und Probleme praxisnäher, schneller und besser zu lösen als es herkömmliche Forschungsansätze ermöglichen.

Reallabore werden immer wichtiger, weil sie helfen, große Herausforderungen wie den Klimawandel oder die Digitalisierung besser zu bewältigen. Sie verbinden Theorie und Praxis auf einzigartige Weise und fördern gemeinschaftliches Handeln. In der Zukunft könnten sie noch stärker genutzt werden, um nachhaltige und innovative Lösungen für unsere Gesellschaft zu finden.

 

Beispiel Mobilitäts-Reallabor – was es in einer Stadt bewirken kann

Ein Mobilitäts-Reallabor ist ein experimenteller Raum, in dem Städte und Regionen innovative Mobilitätslösungen testen, bewerten und optimieren können. Ziel ist es, praktische und nachhaltige Mobilitätsansätze in realen Umgebungen zu erproben.

Ein solches Reallabor kann folgende Elemente beinhalten:

1. Testumgebung für neue Technologien

  • Autonome Fahrzeuge: Teststrecken oder Pilotzonen für selbstfahrende Autos oder Shuttlebusse
  • E-Mobilität: Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge, auch für Mikromobilität wie E-Scooter oder E-Bikes
  • Smart Traffic Systems: Intelligente Verkehrsmanagementsysteme, die Verkehrsfluss in Echtzeit optimieren

2. Alternative Mobilitätsformen

  • Sharing-Angebote: Carsharing, Bikesharing und Scooter-Sharing-Plattformen
  • Öffentlicher Nahverkehr: Integration neuer Ansätze wie On-Demand-Busse oder flexible Routen
  • Förderung aktiver Mobilität: Ausbau von Fußgänger- und Fahrradwegen, Verbesserung der Barrierefreiheit

3. Nachhaltigkeitsinitiativen

  • Emissionen reduzieren: Test von emissionsfreien Fahrzeugen, wie Wasserstoff- oder Elektrobusse
  • Urbaner Logistikverkehr: Konzepte für nachhaltige Paketzustellung (z. B. Lastenräder)
  • Grüne Infrastruktur: Begrünung von Verkehrsflächen zur Verbesserung der Luftqualität

4. Datenerhebung und Analyse

  • IoT-(Internet-of-Things)Sensoren: Sammeln von Verkehrsdaten in Echtzeit (z. B. Verkehrsfluss, Luftqualität, CO₂-Emissionen)
  • Simulationstools: Einsatz von digitalen Zwillingen zur Modellierung von Mobilitätsszenarien
  • Nutzerfeedback: Befragungen oder Apps zur Erfassung von Meinungen und Nutzungsgewohnheiten

5. Partizipation und Bildung

  • Bürgerbeteiligung: Workshops und Plattformen, um Bewohner in Planungsprozesse einzubinden
  • Bildungskampagnen: Aufklärung über nachhaltige Mobilität und Verkehrssicherheit
  • Reallabor-Tage: Veranstaltungen, bei denen Bürger neue Mobilitätslösungen testen können

6. Regulatorische Experimente

  • Verkehrsregelanpassungen: Test von Tempo-30-Zonen oder autofreien Bereichen
  • Flexibles Parkraummanagement: Einführung von Mobilitätspunkten und Reduzierung von Parkplätzen
  • Förderprogramme: Subventionen für nachhaltige Mobilitätslösungen, z. B. für E-Bikes oder Abos für ÖPNV

7. Kooperationen und Netzwerke

  • Wissenschaft und Forschung: Zusammenarbeit mit Hochschulen, um wissenschaftliche Begleitung zu gewährleisten
  • Private Partner: Kooperationen mit Startups und etablierten Unternehmen für innovative Lösungen
  • Städtepartnerschaften: Austausch von Erfahrungen und Best Practices mit anderen Reallaboren

8. Erfolgskontrolle

  • KPI-Messung: Analysen zu Nutzerzahlen, CO₂-Reduktion oder Verkehrssicherheit
  • Pilotbewertungen: Kontinuierliche Anpassungen und Verbesserungen basierend auf Ergebnissen
  • Transferpotenzial: Übertragbarkeit erfolgreicher Ansätze auf andere Stadtteile oder Städte

 

Ein Mobilitäts-Reallabor schafft somit einen vielseitigen Rahmen, um die Mobilität von morgen nachhaltig, technologisch innovativ und bürgerorientiert zu gestalten.

 

Experimentierklauseln zur Umsetzung in die Praxis nötig

Experimentierklauseln sind besondere Regelungen im Gesetz, die es erlauben, unter bestimmten Bedingungen von bestehenden gesetzlichen Vorschriften abzuweichen. Sie dienen dazu, innovative Ideen und neue Ansätze in der Praxis zu testen, ohne dabei gleich die gesamten Regeln ändern zu müssen. Mit diesen Klauseln kann man also Experimente „im echten Leben“ durchführen, um herauszufinden, ob neue Konzepte funktionieren.

Zum Beispiel könnte eine Experimentierklausel erlauben, ein neues Verfahren für den Umweltschutz zu erproben, auch wenn das bestehende Gesetz es eigentlich nicht vorsieht. Solche Regelungen sind zeitlich begrenzt und oft an Bedingungen geknüpft. In Deutschland gibt es solche Klauseln auf der Ebene der Bundesländer in verschiedenen Bereichen, etwa in der Bildung, im Gesundheitswesen, im Wohnungs- und Städtebau oder in der Verwaltung.

 

Beispiele für Experimentierklauseln aus den Bundesländern

Die genauen Regelungen und Anwendungsfelder hängen stark von der jeweiligen Landesgesetzgebung und den spezifischen Reformbestrebungen ab. Die guten Beispiele der Vorreiter für Experimentierklauseln machen Schule und finden in den Ländern und Kommunen immer mehr Nachahmer.

 

Beispiele:

  • Baden-Württemberg: Innovative Versorgungskonzepte in der Kindertagesbetreuung sowie im Rettungsdienst aufgrund von Experimentierklauseln im Landesrecht, mehr dazu hier und hier
  • Bayern: Experimentierklauseln im Kommunalrecht für mehr Reformen in Verwaltungen, mehr dazu
  • Hamburg: Erprobung von Experimentierklauseln in der Vergaberichtlinie durch Erhöhung des Auftragswerts für Direktaufträge, mehr dazu
  • Hessen: Experimentierklauseln im Hessischen E-Government-Gesetz ermöglichen digitale Pilotprojekte unter zeitweiser Befreiung von analogen Verfahrens- und Formvorgaben, mehr dazu
  • Nordrhein-Westfalen: Experimentierklauseln im Bereich der Verwaltungsmodernisierung für digitale Bürgerdienste, mehr dazu
  • Sachsen-Anhalt: Experimentierklauseln im Rettungsdienstgesetz erleichtert Testbetrieb für neue telemedizinische Unterstützung, mehr dazu
  • Schleswig-Holstein: basierend auf Experimentierklauseln haben 144 Schulen mehr als 200 Schulentwicklungsimpulse beim Ministerium eingereicht, mehr dazu

 

Was Experimentierklauseln in der öffentlichen Beschaffung bewirken

Öffentliche Beschaffung bedeutet, dass der Staat oder öffentliche Einrichtungen Waren und Dienstleistungen einkaufen. Hier gilt es strenge Regeln zu beachten, die sicherstellen sollen, dass die Vergabe fair, transparent und effizient abläuft. Diese Regeln können es aber manchmal erschweren, innovative Produkte oder Verfahren zu nutzen, weil neue Ansätze oft nicht genau in das bestehende Regelwerk passen.

Mit Experimentierklauseln können öffentliche Stellen innovative Lösungen ausprobieren, die eigentlich nicht vollständig den üblichen Beschaffungsregeln entsprechen. So können sie neue Technologien, wie z. B. umweltfreundliche Materialien oder digitale Dienstleistungen, testen, ohne gleich gegen das Gesetz zu verstoßen. Dadurch wird Innovation gefördert und die öffentliche Beschaffung flexibler gestaltet.

 

Beispiel der praktischen Umsetzung im Personenbeförderungs- sowie Postgesetz

Die Experimentierklausel im §2 (7) des Personenbeförderungsgesetzes verdeutlicht, wie reale Testräume geschaffen werden können. Dort heißt es: „Zur praktischen Erprobung neuer Verkehrsarten oder Verkehrsmittel kann die Genehmigungsbehörde auf Antrag im Einzelfall Abweichungen von Vorschriften dieses Gesetzes oder von auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Vorschriften für die Dauer von höchstens fünf Jahren genehmigen, soweit öffentliche Verkehrsinteressen nicht entgegenstehen."

Im Postgesetz wird in § 23 (1) die Erprobung neuer Modelle der Postversorgung ermöglicht: „Die Bundesnetzagentur soll zur Erprobung neuer – insbesondere barrierefreier, nachhaltiger, digitaler, automatisierter oder mobiler – Modelle der Versorgung mit Postdienstleistungen Abweichungen von den Vorgaben […] zulassen, soweit diese mit den Zielen […] vereinbar sind und keine anderen öffentlichen Interessen entgegenstehen. Die erstmalige Erprobung soll auf einen Zeitraum von bis zu drei Jahren beschränkt werden.“

 

Wie das Reallabore-Gesetz mit Experimentierklauseln zusammenhängt

Das Reallabore-Gesetz soll Experimente in der öffentlichen Beschaffung rechtlich einfacher machen und die Nutzung von Experimentierklauseln stärken und vereinheitlichen. Daher wird klar geregelt, wie solche Klauseln angewendet werden können und unter welchen Bedingungen sie erlaubt sind. Das Ziel ist, innovative Projekte schneller auf den Weg zu bringen und dabei rechtliche Hindernisse abzubauen, ohne wichtige Schutzmechanismen, wie Umweltschutz oder Verbraucherschutz, außer Kraft zu setzen.

Mit anderen Worten: Das Reallabore-Gesetz schafft den rechtlichen Rahmen, damit Experimentierklauseln in vielen Bereichen für die Innovationsbeschaffung implementiert und genutzt werden können. Dies ermöglicht öffentlichen Institutionen zukunftsweisende Lösungen einfacher ausprobieren zu können, was letztlich der Gesellschaft und der Wirtschaft zugutekommt.

 

Bund-Länder-Austausch und Vernetzung

Reallabore werden in vielen Bereichen eingesetzt und gehen über die Aufgaben eines einzelnen Ministeriums hinaus. Deshalb arbeiten die Ministerien und die Bundesländer eng zusammen, um gute Bedingungen für Reallabore zu schaffen. Um die Zusammenarbeit zu verbessern, gibt es seit 2019 die „Interministerielle Arbeitsgruppe Reallabore“.

Seit Mai 2023 gibt es außerdem eine Arbeitsgruppe von Bund und Ländern, die darauf achtet, dass die Länder bei der Entwicklung des Reallabore-Gesetzes und anderer Maßnahmen mitreden können. Alle sind sich einig, dass Reallabore wichtig sind, um Regeln anzupassen und Innovationen in Deutschland voranzubringen – besonders in Zeiten des digitalen und nachhaltigen Wandels.

 

Maßnahmenpaket des BMWK unterstützt innovative Beschaffung

Mit dem neuen Reallabore-Innovationsportal, welches im November 2024 als zentrale Anlaufstelle gestartet ist, unterstützt das BMWK den Wissenstransfer und die Vernetzung rund um Reallabore und bringt Innovatorinnen und Innovatoren zusammen. Das Portal stellt Informationen sowie Beratung bereit und fördert die Vernetzung der Stakeholder. Der Pilotbetrieb startet im Mai 2025 und ist zunächst auf vier Jahre begrenzt.

Ebenfalls ab dem Frühjahr 2025 werden alle Gesetzesvorschläge der Bundesministerien mithilfe eines digitalen Prüfsystems daraufhin untersucht, ob zusätzliche fachbezogene Experimentierklauseln eingeführt werden sollten, um neue Möglichkeiten für Erprobungen zu schaffen. Eine vom BMWK bereitgestellte Anleitung hilft dabei, diese Klauseln rechtssicher und effektiv zu formulieren.

 

Fazit

Die Reallabore-Strategie der Bundesregierung und die Experimentierklauseln in Ländern und Kommunen sind komplementäre Instrumente, die ein gemeinsames Ziel verfolgen: Innovation und Transformation durch realitätsnahe Erprobungen zu beschleunigen. Während die Strategie den übergeordneten Rahmen und Unterstützungsmaßnahmen bietet, schaffen Experimentierklauseln die rechtlichen Freiheiten, um diese Experimente zu ermöglichen.

 

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